Kommentar: Der Notstand in den Kliniken ist unbestritten. Es ist an der Zeit, Patienten besser zu pflegen. Dafür ist ein Kraftakt der Politik nötig. Auch wenn er Geld kostet.
Um einen Mechanismus der Politik zu verstehen, muss man ans Wahlkampffinale zurückdenken. Es ging um Flüchtlinge, Europa oder die Diesel-Affäre. Ein Thema, das Millionen Deutschen auch auf den Nägeln brennt, spielte keine Rolle: eine würdige Pflege in unseren Kliniken.
Doch dann trat ein junger Pfleger in einer ARD-Wahlsendung mit Angela Merkel auf. Er erzählte von schlimmen Zuständen auf den Stationen, von Fachkräftemangel, schlechter Bezahlung und Erschöpfung. Der Kanzlerin stellte er so bohrende Fragen, dass sie versprach, die Probleme anzugehen.
Zwei Tage lang enterte der Notstand in den Kliniken anschließend die Wahlkampfbühne. Dann verschwand das Thema wieder im Dickicht von Obergrenze, Integration und Diesel-Fahrverboten. Weil dies bei den Wählern im Endspurt dann doch mehr zündete.
Pflege: Verdi gebührt das Verdienst, die Pflege in den Fokus zu rücken
Das ist bedauerlich. Denn auch in dieser Wahlkampfsaison litten auf vielen Stationen hunderttausende Patienten und Pfleger unter Zuständen, die eines führenden Industrielandes nicht würdig sind: Das Personal ist überlastet, die Patienten erhalten oft nicht die angemessen menschenwürdige Zuwendung.
Der Gewerkschaft Verdi gebührt das Verdienst, dass die Pflege dieser Tage wieder im Fokus der Öffentlichkeit steht. Die derzeitigen Warnstreiks in einigen deutschen Kliniken sind Hilferufe der Pflegekräfte. Auf einem anderen Blatt steht, dass einige Krankenhäuser unverhältnismäßig hart bestreikt werden. In diese Kategorie fällt das Klinikum Augsburg. Wenn 100 Operationen verschoben werden müssen, tut das dem Ruf des Maximalversorgers in Bayerisch-Schwaben nicht gut.
Doch der Ärger über den Notstand ist schon deshalb berechtigt, weil Deutschland sich im internationalen Vergleich als Schlusslicht blamiert. Laut einer US-Studie aus dem Jahre 2012, die die Zustände in Industrieländern vergleicht, kommen bei uns 13 Patienten auf eine Pflegekraft. In Amerika sind es fünf, in den Niederlanden sieben. Seit 2012 hat sich wenig geändert.
Dass die ärztliche Versorgung in Deutschland viel besser als die Pflege funktioniert, liegt auch an Fehlern im System. Kliniken rechnen mit den Kassen nach Fallpauschalen ab. Sie erhalten Geld für eine Behandlung, egal wie lange der Patient auf der Station liegt. Daraus folgt, dass die Kliniken, die wirtschaftlich unter Druck stehen, Interesse an einer schnellen Entlassung haben. Die Pflege wird zur nachrangigen Aufgabenstellung.
Pflege: Der Beruf gilt nicht als besonders attraktiv
Zudem gilt der Pflegeberuf als nicht sonderlich attraktiv. Schlechte Bezahlung, hohe Belastung, Schichtarbeit und wenig Aufstiegschancen sind keine Argumente, diesen Beruf zu wählen. Die Krankenhäuser finden daher kaum qualifiziertes Personal.
Bislang hat die Politik nur wenig konkrete Lösungsansätze geliefert: Die Union verspricht den Pflegern bessere Arbeitsbedingungen, die SPD mehr Gehalt, Grüne und FDP eine Mindeststellenzahl pro Station. Das reicht nicht.
Eine gründliche Reform der Krankenhausfinanzierung wäre der nötige Kraftakt, um den Pflegenotstand zu beenden. Fallpauschalen können im Falle alternder Gesellschaften keine sinnvollen Instrumente mehr sein. Menschenwürdige Pflege hat einen hohen Wert. Sie ist keine nachrangige Aufgabe, sondern die Basis angemessener Patientenbehandlung. Das wird viel Geld kosten. Bezahlen müssen das die Bürger mit höheren Beiträgen oder Steuern. Bessere Pflege gibt es nicht zum Nulltarif.
Vor allem aber darf die Politik nicht mehr warten. In den Koalitionsverhandlungen sollte, nein muss menschenwürdige Pflege eine wichtige Rolle spielen. Die Kanzlerin hat versprochen, die Probleme anzugehen. Nun muss sie liefern.