Kommentar zur CeBit: Es gibt kein Entrinnen. Die Digitalisierung ist längst da. Noch gibt es Verweigerer. Zu viele. Doch Angst und Verzagtheit sind die falschen Ratgeber. Wir brauchen eine digitale Aufholjagd.
Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Genazino schreibt seine Bücher wie vor 50 Jahren. Er tippt das Manuskript auf einer alten Schreibmaschine. Er freue sich, so bekannte er kürzlich in Augsburg, dass die Maschine schweigt, wenn man nicht auf ihr schreibe. Kein fiepender Elektro-Sound, keine Abhängigkeiten vom Computer. Der 74-Jährige pflegt das Image des Digital-Verweigerers. Dafür erhält er oft Zustimmung.
Digitale Aufholjagd: Deutschland dümpelt im Mittelfeld
Zu oft. Denn bei der Digitalisierung gehört Deutschland nicht zur Weltspitze. Im Ranking dümpeln wir irgendwo im Mittelfeld. Vorne stürmen die innovationsfreudigen Amerikaner, dahinter kopieren fleißige Asiaten alle brauchbaren Ideen. In Skandinavien brummt die Start-up-Kultur. Wie in den Benelux-Staaten gibt es dort überall schnelles Breitband-Internet.
In Deutschland ist so etwas wie digitale Aufbruchstimmung nicht zu spüren. Auch nicht in Hannover, wo dieser Tage die CeBIT anläuft. Viele Zeitungen schreiben noch immer: Computermesse CeBIT. Dieser Beiname stammt aus der Zeit, als die Wilhelmshavener Olympiawerke dort ihre neuen elektronischen Schreibmaschinen vorstellten. Das Publikum staunte. Damals.
Heute pilgern Trendsetter im März lieber nach Austin/Texas, wo die digitale Leitmesse SXSW stattfindet. Die Smartphone-Nabelschau MWC in Barcelona ist dann gerade beendet. Und die CeBIT? Hier gibt es zwar heute mehr als Computer, aber so wenig neue Ideen wie auf der ebenfalls angestaubten Internationalen Funkausstellung (IFA) in Berlin.
Es ist haarsträubend, wie Politik und Wirtschaftseliten akzeptieren, dass wir nur in der zweiten Internet-Liga spielen. Noch im 20. Jahrhundert galt Deutschland als Land der Ingenieure und Tüftler. Rudolf Diesel erfand hier den Selbstzünder und Konrad Zuse den Computer. Das waren Schlüsseltechnologien des 20. Jahrhunderts.
Digitale Aufholjagd: Warum gibt es so wenig Gründergeist zwischen Kiel und Oberstdorf?
Die Basisinnovation unserer Zeit ist die Digitalisierung. Fast alle neuen Geschäftsmodelle haben einen digitalen Kern. Es dominieren kalifornische Giganten wie Google, Facebook, Amazon und Apple. Keine deutsche Firma spielt in diesem Konzert mit. Und unsere Daten, die Währung der Zukunft, lagern auf amerikanischen Servern.
Es ist schwer zu verstehen, warum es so wenig digitalen Gründergeist gibt zwischen Kiel und Oberstdorf. Als wäre es Teufelszeug, grassieren Angst und Verzagtheit. Oft heißt es, die Digitalisierung koste nur Jobs, weil Roboter die Arbeiter ersetzen. Sie bedroht den Einzelhandel, weil Menschen online kaufen. Sparkassen und Banken sperren Filialen zu, weil Geldgeschäfte im Internet komfortabler zu verrichten sind.
Das alles ist nicht von der Hand zu weisen. Und dennoch ist der digitale Wandel unumkehrbar. Er wird sogar an Tempo zulegen. Es wäre also fatal, wenn wir nicht beginnen, den Rückstand aufzuholen. Chancen gibt es noch immer.
Die deutsche Wirtschaft wäre beispielsweise gut beraten, rasch, mutig und entschlossen das anzupacken, was man Industrie 4.0 nennt. Diese digitale Vernetzung und Steuerung der Produktionssysteme könnte die nächste Schlüsseltechnologie sein. Vielleicht erkennt auch die Bundesregierung endlich die Notwendigkeit, die deutsche Start-up-Szene zu befeuern. Die Gründung eines Internetministeriums könnte ein Signal dafür sein, dass sich etwas tut.
Kanzlerin Angela Merkel ist jedoch bislang nicht durch digitalen Ehrgeiz aufgefallen. „Neuland“ nannte sie noch vor vier Jahren das Internet. Immerhin schreibt sie gerne SMS. Dem Handy kann sich offenbar auch Schriftsteller Wilhelm Genazino nicht ganz entziehen. Nach seiner Tirade gegen das digitale Schreiben wurde er in Augsburg mit einem Smartphone gesehen.
Schöner Text, Jürgen! Wie ein Schriftsteller seine Bücher verfasst ist mir zwar wurscht, aber über die Bedeutungslosigkeit deutscher Unternehmen (oder auch „Start-ups“, die gerade in diesem Bereich ja ganz dolle gefördert werden) im digitalen Business wundere ich mich oft. Dass Breitband / digitale Vernetzung bei uns überhaupt ein (politisches) Thema ist, ist traurig. Ich halte das für eine nicht erwähnenswerte Selbstverständlichkeit für eine entwickelte Wirtschaftsnation. Andererseits … alleine ein Urlaub in Bella Italia, und wenn’s nur der Gardasee ist, belehrte mich, dass das sooooo selbstverständlich auch wieder nicht ist 😉